Neuisland liegt in Kanada
Wenn Isländischlektoren (aller Geschlechter und Länder) Pause haben, kann es vorkommen, dass sie zu spinnen beginnen – so geschehen auf deren jährlicher Tagung, diesmal in Winnipeg, Kanada. Spinnen bezeichnet hier allerdings das Spiel mit Wörtern. Fasziniert von dem deutschen Wort ‚Warmduscher‘ wurde da unter großem Gelächter ein velgjustyrtir herbeiübersetzt (vgl. að sturta ‚duschen‘, sturta ‚Dusche‘, velgja ‚Wärme‘ bzw. volgur ‚lauwarm‘, plus Ablaute). Auch der ‚Sockenschläfer‘ fand Anklang und Übersetzung als sokkasvæfill (aus sokkur, ‚Socken‘ und að svæfa ‚einschläfern‘. Viel interessanter als diese Sprachspielereien ist der Grund unserer Reise in die südliche Mitte Kanadas:
Anlässlich des 130. Isländerfestivals, Íslendingadagurinn, in Gimli (3.-5.8.2019) am Lake Winnipeg machten wir uns auf die Spuren isländischer Migration. Die Nachfahren von rund 15.000 Isländern – ein großer Teil ließ sich zwischen den späten 1870erjahren und 1913 in der Gegend zwischen Winnipeg und seinem gleichnamigen See nieder (viele in North Dakota, andere zogen weiter, manche traten die Heimreise an) – halten an ihren Wurzeln fest. Seit 1888 gibt es eine (heute nur mehr) alle zwei Wochen erscheinende Zeitung Lögberg Heimskringla, die über Ereignisse in der neuisländischen Gemeinde oder Ereignisse in Island berichtet.
Während sich in Winnipeg nur noch 3-5% der Einwohner auf isländische Wurzeln beziehen, ist es in Gimli ein Drittel. Zum Fest kommen Isländischstämmige aus ganz Nordamerika zusammen, isländische Reisegruppen, sowie Familien aus der Region, denn hier gibt es vom Vergnügungspark bis zu Wikingerspielen allerhand Lustbarkeiten. Gleich nach der Ankunft gerieten wir eher zufällig in eine besondere Modeschau: Im Festsaal eines Altersheims zeigten Damen und Herren zwischen 8 Monaten und 99 Jahren isländische Festtagskleidung. Jedes Kleidungsstück wurde detailreich beschrieben. In wessen Besitz es sich befand, als es nach Island gelangte, spielte dabei die größte Rolle. Das Publikum saß an runden Tischen und genoss unterdessen kaffi sowie kleinur, pönnukökur und den Hvannadalshnjúkur isländischer Backkunst, vínarterta. Diese offensichtlich nach meiner Heimatstadt benannte Spezialität (‚Wienertorte‘) ist ein Gebirge von dünnen Teiglagen und picksüßer Zwetschkenmarmelade unter massiger Zuckerglasur. Die europäische Zunge rollt sich schreckhaft zusammen. Die Fashionshow berührte uns hingegen ohne Ausnahme, denn die meistgehörten Wörter waren amma ‚Oma‘ und afi ‚Opa‘. Auch wenn die Nachfahren der vesturfarar (‚die nach Westen fahren‘), fast ausschließlich englisch sprechen, sind die Altvorderen in ihren Herzen. O, es gäbe noch so vieles zu berichten…
PS: Die Auslegung vinarterta als ‚Torte des Freundes‘ schließe ich aus. Der Akut über dem i wird wohl 4.504 Kilometern Entfernung zu Island zum Opfer gefallen sein. Hier sollte das Foto eines Sonnenblumenfeldes prangen. Leider mag WordPress keine Sonnenblumen. Aber der Wasserfall Mígandi ist auch schön. (Danke, Raffaela Holzweber!)